Zu dem Verdikt des EuGH über Polen und Ungarn:
Der EuGH und das Europaparlament nehmen in ihrem Furor über die Rechtsverstöße insbesondere Polens gegen europäisches Recht, so zuletzt durch Urteil v. 15.11.2021, nicht ausreichend wahr, daß auch Deutschland in bestimmter Hinsicht bedenkliche Regelungen aufrechterhält, die folgerichtig auch, wenn Polen dafür kritisiert wird, für Deutschland und die Rechtslage hier Konsequenzen haben müßten:
Grundsätzlich ist es keine falsche Betrachtung, festzustellen, daß auch europarechtlich jedes einzelne Mitgliedsland im Rahmen seiner Verfassungsordnung Souveränitätsrechte an Europa delegieren kann. Gibt die Verfassungsordnung die Delegation einzelner Teile rechtlicher Teilbereiche durch europarechtliche Entscheidungen oder Instanzen nicht her, so ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedsländer selbst, diese Bereiche für sich zu entscheiden.
Es gibt Grenzen der jeweiligen nationalen, aber auch der europäischen Rechtsprechung – die auch der EUGH als unabdingbar zu beachten hat. Solange die EU – insbesondere durch die EU-Rechtsprechung – einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten sei, werde das BVerfG, so das Gericht selbst, seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht mithin nicht mehr als Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen. Grundsätzlich hat also der nationale Gesetzgeber eines Mitgliedslandes die Hoheit über das eigene Recht (BVerfG 102, 47, Rdnr. 59).
Erst wenn die europäische Gemeinschaft bzw. der EUGH zu der Feststellung gelangt, daß der unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz in einem Land nicht mehr gleich beachtet werde, besteht Anlaß entweder für die europäische Gemeinschaft auf der Einhaltung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zu bestehen und dieses durchzusetzen.
Ob diese Feststellung im vorliegenden Fall wirklich getroffen worden ist, scheint fraglich und überprüfungsbedürftig. Mit Parolen von Europapolitikern wie „Europarecht bricht nationales Recht, ist das Problem nicht erfaßt.
Sollte es insoweit zu rechtlichen Auseinandersetzungen über Fundamente des Rechtsstaates kommen, die insgesamt einen europarechtlichen Verstoß bedeuten, muß entweder die verfassungsrechtliche Regelung des jeweiligen Mitgliedstaats verändert werden oder aber respektiert werden, daß insoweit keine europarechtliche Zuständigkeit besteht.
Im übrigen: Die rechtlichen Regelungen in Deutschland zum einen über die Richterwahl und zum anderen über die Weisungsabhängigkeit von Staatsanwälten von den jeweiligen Justizverwaltungen – und die neuen polnischen Regelungen, welche die PIS zu eigenen politischen Gunsten verändert hat – sind der Kern der Auseinandersetzung und in hohem Maße bedenklich: Bei der Richterwahl ist etwa die Bestenauslese zugunsten politischer Entscheidungen durch die Parlamente in erheblicher Weise sogar eingeschränkt worden. Das kann verfassungsrechtlich kaum Bestand haben. Mit anderen Worten: Für politische Einflußnahmen und die Ermöglichung von Richterkarrieren von politischen Gnaden sind die Möglichkeiten in jüngster Zeit (Schleswig-Holstein!) sogar noch verstärkt worden.
Die Rekrutierung der Bundesverfassungsrichter durch den Richterwahlausschuss des Bundes, in welchem ursprünglich nur die beiden einstmals „großen“ Parteien Union und SPD saßen, inzwischen auch die kleineren, macht die Auswahl der Bundesverfassungsrichter zu einem unwürdigen Spielball politischer Interessen. Das hat mit Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz von staatlichen Gewalten nicht mehr viel zu tun. Wenn dann Richter und Exekutive regelmäßig miteinander „Erfahrungsaustausch“ bzw. opulente Essen durchzuführen pflegen, ist es mit der Unabhängigkeit der Verfassungsrichter nicht weit her. Daß die Verfassungsrichter insoweit gegen sie gerichtete Befangenheitsgesuche als offensichtlich unbegründet abweisen, überrascht nicht.
Die Abhängigkeit von Staatsanwälten von Entscheidungen der Justizverwaltung, ob Ermittlungen geführt oder nicht geführt werden sollen, ist vor der Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften als unabhängigen Justizorgan gegenüber anderen Gewalten – Legislative und Exekutive – zu wahren, nicht zu rechtfertigen. Diese Frage ist bereits vor 2 Jahren vom EuGH für die Einordnung der Staatsanwaltschaft als Teil der Justiz aufgeworfen worden, aber offensichtlich wieder – durch wen auch immer – verworfen worden.
Thanks