Heute: „Man muß die Sorgen der Menschen ernst nehmen.“
Der Unterschied zwischen Sein und Schein in der Politik beschreibt eine zentrale Problematik: die Differenz zwischen der tatsächlichen Realität (Sein) und dem äußeren Anschein oder der öffentlichen Darstellung (Schein).
Die politische Formel „man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen“ gehört zum festen Repertoire deutscher Politiker und erfüllt mehrere Funktionen, die sich meist stärker dem Schein als dem Sein zuordnen lassen:
Funktion des Spruchs (Schein)
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Signal der Empathie: Der Satz soll Nähe herstellen und suggerieren, dass die Politik auf Augenhöhe mit der Bevölkerung agiert.
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Entschärfung von Kritik: Indem Sorgen „ernst genommen“ werden, wird Kritik zunächst anerkannt, ohne dass man sich sofort zu konkretem Handeln verpflichtet.
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Rhetorische Leerstelle: Der Satz klingt verbindlich und wohlwollend, ist aber so allgemein, dass er in nahezu jedem Kontext eingesetzt werden kann – von Migration über Inflation bis hin zu Klimapolitik.
Realität politischer Praxis (Sein)
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Ob die Sorgen tatsächlich ernst genommen werden, zeigt sich erst im politischen Handeln: Werden Maßnahmen entwickelt, die die Sorgen adressieren, oder bleibt es bei symbolischer Kommunikation?
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Häufig bleibt der Spruch ein Platzhalter, der das Problem zwar benennt, aber auf konkrete Lösungen verweist, die entweder schwierig, unpopulär oder gar widersprüchlich zu anderen Interessen sind.
Deutsche politische Kultur
In Deutschland trifft dieser Satz auf eine politische Öffentlichkeit, die – historisch geprägt – skeptisch gegenüber allzu inszenierten Formeln ist. Genau deshalb wirkt er oft abgenutzt oder gar zynisch: Er signalisiert Verständnis, ohne echte Authentizität beweisen zu müssen. Die Formel kann so in das Muster der „Placebo-Politik“ passen, die Thomas Meyer beschreibt: Man zeigt Aufmerksamkeit, ohne substanzielle Veränderungen einzuleiten.
Bewertung
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Inhaltlich: Der Satz ist in seiner Allgemeinheit kaum gehaltvoll. Er sagt nichts darüber aus, wie Sorgen ernst genommen werden, welche Sorgen priorisiert werden, oder ob man sie auch politisch nachvollzieht, selbst wenn sie irrational erscheinen.
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Bedeutsamkeit: Er ist eher ein rhetorisches Instrument der Kommunikation als ein inhaltliches Versprechen. Seine Bedeutung liegt weniger in konkreter Politik, sondern in der öffentlichen Inszenierung von Bürgernähe.
Der Spruch „man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen“ ist ein typisches Beispiel für die Diskrepanz zwischen Sein und Schein in der Politik. Er gehört zum rhetorischen Werkzeugkasten, um Legitimität und Vertrauen zu signalisieren, hat aber inhaltlich nur dann Gewicht, wenn er durch tatsächliche Politik (Sein) eingelöst wird.
Am 5. Mai 2025 sagte Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender und seitdem Kanzler, laut einem Artikel der Welt:
„Sie bekommen eine Regierung, die Sorgen ernst nimmt“ DIE WELT