Passt der Koalitionsvertrag 2025 zum Grundsatzprogramm der CDU? – Eine ausführliche Analyse zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Wenn CDU, CSU und SPD sich auf einen Koalitionsvertrag einigen, entsteht notwendigerweise ein Kompromisspapier. Doch für die CDU als Partei mit einem klaren normativen Kompass – basierend auf ihrem Grundsatzprogramm – stellt sich die Frage: Wie sehr bleibt dieser Vertrag den eigenen Grundwerten treu? Oder wird der Schein einer christlich-demokratischen Politik gewahrt, während das eigentliche politische Sein anderen Realitäten folgt?
Dieser Beitrag setzt den Koalitionsvertrag 2025 in Bezug zum CDU-Grundsatzprogramm (Ludwigshafen 1978, ergänzt durch zentrale Ideen der neueren Programmatik) und 2024 – thematisch gegliedert und mit Blick auf mögliche Diskrepanzen zwischen Idealen und Kompromissen.
Grundsatzprogramm der CDU 1978
1. Menschenbild: Würde, Freiheit, Verantwortung
Im CDU-Grundsatzprogramm steht die Würde des Menschen im Zentrum – verbunden mit den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Diese Prinzipien finden sich rhetorisch auch im Koalitionsvertrag wieder. Insbesondere die Betonung von Chancengleichheit, der Förderung von Familien und der Verantwortung der Gesellschaft für Schwächere spiegelt programmatische Kontinuitäten wider.
Aber: Während das Grundsatzprogramm auf eine ethisch fundierte, langfristige Verantwortungspolitik zielt, bleibt der Koalitionsvertrag oft vage. Er vermittelt den Schein einer klaren Werteorientierung – etwa mit dem Satz „Wir schaffen Wohlstand für alle“ – ohne sich mit den Zielkonflikten und harten sozialen Realitäten auseinanderzusetzen. Hier entsteht ein Schein der Wertegebundenheit, dem jedoch ein praxisorientiertes, ethisches Fundament häufig fehlt.
2. Familienpolitik: Zwischen Bekenntnis und Halbherzigkeit
Die CDU betont seit jeher die Familie als Fundament der Gesellschaft. Das Grundsatzprogramm fordert konkrete wirtschaftliche und gesellschaftliche Förderung – etwa durch Erziehungszeiten, Eigentumsbildung und generationenübergreifende Verantwortung.
Der Koalitionsvertrag spricht zwar von einem „Kinderzukunftspaket“ und will die „Familienfreundlichkeit Deutschlands“ verbessern, bleibt aber im Sein der Maßnahmen unklar. Die Integration der SPD-Sozialpolitik und die vermeintliche Betonung von institutioneller Betreuung statt Wahlfreiheit der Familien lassen Zweifel an der kohärenten Umsetzung christdemokratischer Familienleitbilder aufkommen. Hier überwiegt der Schein einer umfassenden Unterstützung, doch die tatsächliche Tiefe (z. B. bei Rentenanrechnungen, Betreuungsgeld oder Eigentumsförderung) bleibt diffus.
3. Soziale Marktwirtschaft: Verblassende Konturen?
Das Herzstück christlich-demokratischer Ordnungspolitik – die Soziale Marktwirtschaft – verlangt eine Balance aus Leistungsgerechtigkeit, Eigenverantwortung und sozialer Sicherung.
Der Koalitionsvertrag bekennt sich klar zur Sozialen Marktwirtschaft. Der geplante „Deutschlandfonds“ zur Industriepolitik und der „Zukunftsfonds“ für Innovationen sind ambitioniert und könnten mit dem Prinzip „Wohlstand durch Verantwortung“ kompatibel sein. Auch das Bekenntnis zu Technologieoffenheit in der Mobilitätspolitik (statt planwirtschaftlicher Verbote) lässt sich mit CDU-Positionen vereinen.
Jedoch: Der Vertrag bringt gleichzeitig eine starke Staatsgläubigkeit zum Ausdruck – etwa bei Klimazielen, Umverteilung oder Bildungspolitik – die mit dem Subsidiaritätsprinzip der CDU (was der Einzelne oder die kleinere Einheit leisten kann, soll nicht der Staat übernehmen) in Konflikt steht. Hier überwiegt ein Schein von wirtschaftlicher Freiheit, dem ein zunehmend interventionistisches Sein gegenübersteht.
4. Bildung, Leistung, Gerechtigkeit: CDU-Ideale unter Druck
Das CDU-Grundsatzprogramm betont Leistung als Quelle von Würde, Chancengerechtigkeit und die Wichtigkeit eines differenzierten, begabungsgerechten Bildungssystems.
Der Koalitionsvertrag verspricht eine „Chancenschule“, mehr Durchlässigkeit, digitale Infrastruktur und soziale Kompensation. Doch gerade hier zeigt sich ein grundlegendes Spannungsfeld: Der Leistungsbegriff wird abgeschwächt, das Individuelle in der Bildungspolitik nivelliert – eine Tendenz, die dem CDU-Ideal der Anerkennung von Verschiedenheit in Begabung und Motivation entgegensteht.
Der Schein von Bildungsgerechtigkeit wird erzeugt durch wohlklingende Begriffe wie „Startchancen“ oder „Schulmodernisierung“, doch die Orientierung an Leistung und Verantwortung – ein zentraler CDU-Pfeiler – wird zunehmend relativiert.
5. Außen- und Sicherheitspolitik: Christlich-demokratische Stärke
Ein Bereich, in dem sich Sein und Schein stärker decken, ist die Außenpolitik. Der Koalitionsvertrag betont die Rolle Deutschlands in der NATO, die Verantwortung in der EU und die Unterstützung für die Ukraine. Auch die Forderung nach wehrhafter Demokratie und die Modernisierung der Bundeswehr sind mit der CDU-Linie vereinbar.
Die CDU-Idee eines „starken Deutschlands in einer freien Welt“ wird im Koalitionsvertrag angemessen aufgenommen. Hier ist der Schein glaubwürdig und das Sein realpolitisch stimmig.
6. Klimaschutz und Generationengerechtigkeit
Das CDU-Grundsatzprogramm fordert verantworteten Umgang mit der Schöpfung, sieht aber Technologieoffenheit und wirtschaftliche Vernunft als Bedingung für nachhaltigen Klimaschutz.
Der Koalitionsvertrag stellt ambitionierte Ziele in Aussicht – Klimaneutralität, Wasserstoffstrategie, energetische Sanierung. Doch der Weg dorthin ist oft wenig durchfinanziert, detailarm oder von Symbolpolitik geprägt. Der Schein einer allumfassenden Klima-Agenda steht einer realistisch machbaren Energie-, Finanz- und Sozialpolitik gegenüber.
Ein Vertrag der vielen Spiegel – aber wessen Bild zeigt er?
Insgesamt ist der Koalitionsvertrag 2025 ein Dokument des politischen Scheins, das versucht, viele Interessen zu vereinen. Die CDU kann einige ihrer Grundüberzeugungen 1978 wiederfinden – insbesondere in Wirtschafts-, Außen- und Familienpolitik. Doch der Einfluss sozialdemokratischer und „staatstragender“ Denkweisen prägt viele Politikfelder stärker als das CDU-Grundsatzprogramm.
Das Grundsatzprogramm 1978 gibt klare ethische, freiheitliche und ordnungspolitische Linien vor. Der Koalitionsvertrag dagegen ist ein Spiegelbild von Pragmatismus, Machbarkeit und politischer Symbolik. Wo CDU-Ideale als rhetorische Scheinbilder bleiben, muss sich zeigen, ob die praktische Politik (das Sein) diesen doch noch gerecht werden kann.
Insofern bleibt die Herausforderung für die CDU in 2025: Nicht im Schein des Kompromisses das eigene Sein zu verlieren. Denn nur wer sich selbst treu bleibt, kann auch glaubwürdig gestalten – jenseits von Schlagworten und Programmatik.
Grundsatzprogramm der CDU 2024
1. Wertefundament: Das christliche Menschenbild und der Dreiklang aus Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit
Das Grundsatzprogramm der CDU stellt das christliche Menschenbild ins Zentrum – der Mensch als freies, verantwortliches Wesen mit unveräußerlicher Würde. Daraus leitet sich ein klares ethisches Fundament ab: Freiheit in Verantwortung, Solidarität als Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit als Ermöglichung von Teilhabe.
Im Koalitionsvertrag wird dieser Werterahmen sprachlich aufgenommen, etwa durch Begriffe wie Chancengerechtigkeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt oder Teilhabe. Auch das Bekenntnis zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und zur „Verantwortung für die Schwächeren“ ist prominent vertreten.
Aber: Der Vertrag bleibt bei vielen dieser Werte auf einer rhetorischen Ebene. Es fehlt oft an konkreten politischen Ableitungen, die aus dem CDU-Leitbild folgen müssten – etwa in Fragen der Familienförderung, des Bildungssystemzugangs oder der staatlichen Zurückhaltung.
➡️ Fazit: Schein von Werteorientierung ja, tiefes „Sein“ im Sinne der christdemokratischen Umsetzung nur partiell.
2. Familienbild und Generationenpolitik: CDU-Kernelemente auf dem Prüfstand
Die CDU bekennt sich klar zur Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“, schützt die Ehe, stärkt Elternrechte und setzt sich für generationenübergreifende Verantwortung ein.
Im Koalitionsvertrag finden sich einige Ansätze dazu – etwa das „Kinderzukunftspaket“, eine angekündigte Reform familienpolitischer Leistungen und das Ziel, Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.
Doch der konkrete Fokus liegt stärker auf staatlich-institutionellen Lösungen (Kita-Ausbau, Ganztagsbetreuung) als auf Wahlfreiheit, Eigentumsbildung oder generationenübergreifenden Beziehungen – also eher SPD-Schwerpunkte.
➡️ Fazit: Schein eines familienfreundlichen Programms, aber mit deutlicher sozialdemokratischer Handschrift – CDU-typische Inhalte sind abgeschwächt.
3. Soziale Marktwirtschaft: Ordnungspolitik oder Staatssteuerung?
Das CDU-Programm betont die Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsrahmen für Freiheit, Wettbewerb und Gerechtigkeit. Weniger Staat, mehr Verantwortung, Förderung der Leistungsträger.
Im Koalitionsvertrag tauchen Begriffe wie „Wachstumsagenda“, „Deutschlandfonds“, „Zukunftsfonds“ auf – ambitionierte Investitionspläne, teils staatlich gelenkt. Die Rhetorik von „Technologieoffenheit“ und „Innovationsstandort“ passt ins CDU-Programm.
Gleichzeitig aber: Die Rolle des Staates ist sehr stark betont – von Digitalisierung über Fachkräfte bis Klimaschutz. Der Subsidiaritätsgedanke bleibt unterbelichtet.
➡️ Fazit: Zwischen ordnungspolitischem Schein (rhetorische Bekenntnisse) und realpolitischem Sein (starker Steuerstaat) tun sich Widersprüche auf. Die CDU-Programmatik wird hier nur teilweise eingelöst.
4. Bildung und Aufstieg: Leistung muss sich lohnen
„Sozial ist, was Bildung ermöglicht“, heißt es im CDU-Programm. Bildung ist Aufstiegschance, Schlüssel zur Teilhabe, Quelle individueller Entfaltung. Gleichzeitig ist Leistung ein Wert an sich.
Im Koalitionsvertrag wird „Chancengleichheit“ vielfach betont. Es gibt Förderideen für „Startchancen“, digitale Lernplattformen, die „Chancenschule“. Doch es bleibt diffus, wie individuelle Leistung anerkannt und gefördert wird.
Das CDU-Ideal der begabungsgerechten Differenzierung kommt kaum vor. Bildungsmaßnahmen wirken nivellierend statt differenzierend.
➡️ Fazit: Der Schein von Gerechtigkeit überdeckt das Fehlen eines klaren Leistungsprinzips. CDU-Bildungsideale sind verwässert, nicht negiert.
5. Sicherheit, Rechtsstaat und Wehrhaftigkeit: CDU-Kernbereich mit hoher Deckung
Ein starkes Kapitel des Grundsatzprogramms ist die innere und äußere Sicherheit: Null Toleranz, Stärkung der Bundeswehr, Bekämpfung von Extremismus, Cyberabwehr, Schutz der Grundordnung.
Der Koalitionsvertrag deckt sich hier erstaunlich stark: Justizmodernisierung, Bundeswehr-Investitionen, Bekämpfung von Islamismus, Stärkung der Polizei, Cyberstrategie.
➡️ Fazit: Hier entspricht der Sein-Anteil weitgehend dem programmatischen CDU-Selbstverständnis. Hohe Kongruenz!
6. Migration und Integration: Ordnung statt Beliebigkeit
Die CDU fordert Humanität und Ordnung, klare Regeln, Rückführungen, Integrationsverpflichtung. Leitkultur, Sprache und Rechtsstaat werden betont.
Der Koalitionsvertrag bleibt hier ambivalent: Einerseits wird von kontrollierter Einwanderung und „Work-and-Stay“-Modellen gesprochen. Andererseits fehlen konkrete Maßnahmen zur Rückführung, zur Leitkulturverpflichtung oder zum Abbau integrationshemmender Parallelstrukturen.
➡️ Fazit: Schein eines geregelten Migrationsregimes, aber viele CDU-Forderungen bleiben im Dunkeln. In diesem Bereich ist das Sein programmatisch schwach ausgeprägt.
7. Klimaschutz: Marktwirtschaft oder Steuerpolitik?
Die CDU bekennt sich zum marktwirtschaftlichen Klimaschutz, etwa durch Emissionshandel und Technologieoffenheit. Sie lehnt Verbote und Planwirtschaft ab.
Im Koalitionsvertrag findet sich einerseits diese Offenheit („keine starren Quoten“, „Technologieoffenheit bei Fahrzeugen“). Andererseits sind auch staatlich gelenkte Investitionsoffensiven und regulatorische Eingriffe vorgesehen.
➡️ Fazit: Ein Spannungsfeld zwischen ordnungspolitischem CDU-Ideal und realpolitischem grünen Einfluss. Der Schein von Freiheit wird mit ordnungspolitischen Kompromissen unterlegt.
8. Europa und Außenpolitik: Strategisch handlungsfähig?
Die CDU steht für ein starkes, handlungsfähiges Europa, transatlantisch verwurzelt, geopolitisch wachsamer. Der Koalitionsvertrag bekräftigt diese Linien: mehr Verteidigungsfähigkeit, klare Haltung zu Russland und China, Ausbau der EU-Kooperationen.
Auch die Unterstützung für die Ukraine und das Bekenntnis zur NATO stimmen mit dem CDU-Kurs überein.
➡️ Fazit: In der Außenpolitik zeigt sich eine weitgehende Deckung zwischen Parteiprogramm und Regierungslinie. Hier dominiert das politische Sein über den reinen Schein.
Gesamteinschätzung: Zwischen Überlagerung und Entkernung
Bereich | Grad der Übereinstimmung | Tendenz zu Schein / Sein |
---|---|---|
Wertefundament | mittel | eher Schein |
Familienpolitik | gering | stark abweichend (Schein) |
Soziale Marktwirtschaft | mittel | Mischverhältnis |
Bildung & Leistung | gering | Leistungsideal abgeschwächt |
Sicherheit & Rechtsstaat | hoch | konsistent (Sein) |
Migration & Integration | gering | ordnungspolitischer Schein |
Klimaschutz | mittel | rhetorischer Einklang, praktischer Spagat |
Europa & Außenpolitik | hoch | kongruent (Sein) |
Schlussfolgerung:
Der Koalitionsvertrag 2025 trägt Teile der CDU-Programmatik 2024 sichtbar mit, vor allem in Bereichen wie Sicherheit und Außenpolitik. Doch an anderen entscheidenden Stellen – insbesondere Familie, Bildung, Wirtschaft und Migration – bleibt der Schein einer Übereinstimmung stärker als das tatsächliche Sein.
Die CDU hat in diesem Koalitionsvertrag teils erfolgreich ihre Handschrift eingebracht, musste aber in zentralen ideellen Bereichen kompromisshafte oder symbolische Lösungen akzeptieren. Wer das neue Grundsatzprogramm ernst nimmt, muss daher kritisch nachfragen, wieviel Substanz hinter den Formulierungen im Vertrag steckt – und wieviel Schein für die politische Bühne geschaffen wurde.