Dr. Gregor Gysi eröffnet als dienstältestes Mitglied des Bundestags die konstituierende Sitzung am 25.3.2025 und stellt fest, dass er gemäß § 1 Abs. 2 der Geschäftsordnung zur Übernahme des Vorsitzes berechtigt ist. Er weist den Antrag der AfD zurück, nach dem das älteste Mitglied (statt des dienstältesten) Vorsitzender sein solle, da dieser von der Mehrheit abgelehnt wurde.
Schwerpunkte der Rede:
Einheit und Versöhnung
Gysi erinnert zunächst an die Bedeutung der deutschen Einheit, mahnt jedoch, dass sie bis heute nicht vollständig vollzogen sei. Er kritisiert insbesondere die mangelnde Gleichstellung von Ostdeutschen – sowohl im Hinblick auf Tarifverträge und Renten als auch auf die Besetzung von Führungspositionen im Bund. Er fordert, dass Ostdeutsche endlich angemessen in Bundesministerien, bei Staatssekretärsposten und an obersten Gerichten vertreten sein müssen. Artikel 36 GG sei hierbei zu beachten.
DDR-Vergangenheit und historische Anerkennung
Gysi räumt ein, dass die DDR ein Unrechtsstaat war und dass insbesondere die Rolle der Staatssicherheit aufzuarbeiten sei. Gleichzeitig fordert er eine differenziertere Betrachtung des Alltags in der DDR, u. a. die Gleichstellung der Geschlechter, Kinderbetreuung und ökologisches Verhalten, das nicht aus Prinzip, sondern aus Mangel resultierte. Er kritisiert, dass nach der Wiedervereinigung nur symbolische Dinge wie das „Ampelmännchen“ übernommen wurden und Ostdeutsche sich dadurch entwertet fühlten.
Rente und Sozialpolitik
Er schlägt die Einrichtung überparteilicher Gremien vor, etwa zur Rentenpolitik. Dabei benennt er unterschiedliche Modelle: Erhöhung des Renteneintrittsalters, Beteiligung des Aktienmarkts, oder Einbeziehung aller Erwerbstätigen – einschließlich Bundestagsabgeordneten – in die gesetzliche Rentenversicherung. Auch die Steuerpolitik in Bezug auf Renten soll diskutiert werden.
Steuergerechtigkeit
Ein weiteres Gremium solle sich mit der Frage der Steuergerechtigkeit befassen. Gysi kritisiert die Differenz zwischen der 45 %-Besteuerung von Arbeitseinkommen und der 25 %-Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge. Er stellt die Frage, ob dieses Steuersystem tatsächlich gerecht ist.
Gleichstellung, Diversität und Minderheitenrechte
Er befürwortet die Aufnahme von „Diversen“ ins Grundgesetz zum Schutz ihrer Grundrechte. Menschen dürften nicht nach Herkunft, Hautfarbe oder Religion bewertet werden, sondern ausschließlich nach ihrem Verhalten und Charakter. Er begrüßt, dass wieder ein Vertreter der dänischen Minderheit im Bundestag ist.
Bildung, Ausbildung, soziale Integration
Gysi kritisiert Defizite im deutschen Bildungssystem, darunter hohe Schulabbrecherquoten und Ungleichheit zwischen Bundesländern. Er fordert chancengleichen Zugang zu Bildung, Kultur und Sport. Integration müsse verbessert werden; insbesondere brauche es sofortige Arbeitserlaubnisse für Migrant:innen, auch wenn deren Asylanträge letztlich abgelehnt würden.
Behindertenpolitik
Die Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen, sei faktisch wirkungslos, da sie steuerlich absetzbar sei. Gysi fordert eine Reform, die echte Anreize zur Inklusion schafft.
Außenpolitik und internationale Verantwortung
Gysi kritisiert die israelische Regierung für den Ausschluss der Zwei-Staaten-Lösung und erinnert an die deutsche Verantwortung nicht nur gegenüber Israel, sondern auch gegenüber den Palästinenser:innen. In Bezug auf die Ukraine-Krise betont er, dass Sicherheit für die Ukraine ebenso wie für Russland hergestellt werden müsse.
Pandemie-Aufarbeitung
Er fordert eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der COVID-19-Pandemie. Kritisch äußert er sich zu den Freiheitsbeschränkungen und der medialen sowie politischen Ausgrenzung impfskeptischer Personen.
Schlussbemerkungen
Gysi betont, dass nur mit gegenseitigem Respekt, sozialer Gerechtigkeit, Integration, Bildung und ökologischer Nachhaltigkeit Fortschritt möglich sei. Seine Rede ist ein Aufruf zu einer gerechteren Gesellschaft, mehr Ost-West-Ausgleich, echter Demokratie und verantwortungsvoller Politik.
Was wurde seit 1990 in den neuen Bundesländer investiert und entsprechend transferiert
Die Frage nach dem Gesamtumfang der finanziellen Transfers seit der deutschen Einheit – insbesondere über den Solidaritätszuschlag („Soli“) und den Solidarpakt – ist zentral für die Bewertung der Lastenverteilung zwischen alten und neuen Bundesländern.
- Gesamtvolumen der Transfers seit 1990
- a) Solidarpakt I (1995–2004) und II (2005–2019)
Die wesentlichen Instrumente der finanziellen Aufbauhilfe für die neuen Länder waren:
- Solidarpakt I: ca. 94 Milliarden Euro
- Solidarpakt II: ca. 156 Milliarden Euro
- Summe beider Pakte: ca. 250 Milliarden Euro
Diese Mittel flossen aus dem Bundeshaushalt – also im Wesentlichen durch Steuermittel aus ganz Deutschland – in Form von zweckgebundenen Investitionshilfen an die neuen Bundesländer.
- b) Solidaritätszuschlag
- Erhoben seit 1991, zunächst befristet, dann ab 1995 unbefristet.
- Volumen bis 2019: über 330 Milliarden Euro (Schätzungen des Bundesfinanzministeriums).
- Seit 2021 entfällt der Soli für rund 90 % der Steuerzahler; nur Besserverdienende zahlen weiterhin.
Wichtig: Der Solidaritätszuschlag ist keine zweckgebundene Abgabe (wie etwa eine Sonderabgabe gem. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG), sondern Teil des allgemeinen Steueraufkommens. Seine Verwendung unterliegt der politischen Haushaltslenkung, nicht einer rechtlich zwingenden Zweckbindung für den „Aufbau Ost“.
- c) Weitere Instrumente
- Länderfinanzausgleich (LFA): Bis zur Reform 2020 profitierten die ostdeutschen Länder überproportional.
- EU-Strukturfonds: Die neuen Bundesländer galten als Ziel-1-Gebiete mit höchster Förderpriorität.
- Arbeitsmarktförderung (z. B. ABM, Umschulung) sowie Sonderprogramme für Hochschulen, Bahn, Autobahnen etc.
- Summarisches Ergebnis
- Je nach Schätzung und Zählweise: zwischen 1,6 und 2,0 Billionen Euro Transferleistungen in die neuen Länder seit 1990.
- Diese Summe inkludiert direkte Transfers, steuerliche Entlastungen, Förderprogramme, Sozialleistungen (z. B. Arbeitslosengeld), Investitionen des Bundes und sonstige Subventionen.
- Infrastruktur: Ausbau zulasten der alten Länder?
- a) Objektive Infrastrukturprojekte
Der Ausbau von Infrastruktur in den neuen Bundesländern war – faktisch und politisch – priorisiert:
- Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE): 17 Großprojekte im Umfang von rund 40 Milliarden Euro (u. a. A 71, ICE-Strecken, Elbe-Ausbau, Berliner Außenring etc.).
- ÖPNV, Telekommunikation, Breitband: In weiten Teilen der ostdeutschen Fläche moderner als in vielen Regionen Westdeutschlands.
- Schulbau, Hochschulmodernisierung, Justizgebäude etc. wurden umfassend aus Bundesmitteln gefördert.
- b) Belastung der alten Länder
- In Westdeutschland kam es teilweise zu Investitionsstau: Der Substanzwert von Schulen, Straßen und öffentlicher Infrastruktur wurde in einigen westlichen Kommunen nicht modernisiert, während im Osten Neubauten realisiert wurden.
- Zahlreiche westdeutsche Länder und Kommunen waren mitfinanzierend über den Finanzausgleich und litten unter struktureller Unterfinanzierung – etwa in NRW oder dem Saarland.
- Bewertung
Juristisch betrachtet handelt es sich um eine zulässige finanzverfassungsrechtliche Verteilung, insbesondere durch die politische Legitimation im Bundestag sowie durch Art. 106 ff. GG und § 1 FAG (Finanzausgleichsgesetz). Ökonomisch jedoch entstand in Teilen Westdeutschlands das Gefühl, übermäßig belastet worden zu sein – zumal Effizienz, Nachhaltigkeit und Zielgenauigkeit einzelner Fördermaßnahmen in Ostdeutschland teils zweifelhaft waren (z. B. Subventionen für leere Industrieparks).
Zwischenergebnis zu den Forderungen von Gregor Gysi:
Die alten Bundesländer haben in erheblichem Umfang zur Finanzierung des Aufbaus Ost beigetragen. Die Transfers sind in Höhe und Dauer historisch einzigartig. Ein Teil der öffentlichen Infrastruktur wurde zulasten westdeutscher Kommunen und Länder zurückgestellt oder vernachlässigt. Das Ziel der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG) ist bis heute nicht vollständig erreicht – auch nicht innerhalb der alten Bundesländer.
Strukturelle Unterschiede sind in einem föderalen, dezentralen und historisch vielfältigen Land wie Deutschland „normal“. Unterschiede allein sind weder problematisch noch vermeidbar.
Problematisch wird es dann, wenn Unterschiede:
-
systematisch,
-
dauerhaft,
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politisch verfestigt,
-
und gesellschaftlich delegitimierend wirken.
Das ist im Ost-West-Verhältnis in Teilen noch der Fall – auch nach 35 Jahren. Die Lösung liegt aber nicht in Gleichmacherei oder einem Mehr an Staat, sondern in gleichwertiger Teilhabe, Repräsentanz und Entwicklungschancen – im Osten wie im Ruhrgebiet, in der Eifel oder im Bayerischen Wald.
Strukturelle Unterschiede innerhalb der alten Bundesländer:
Auch in Westdeutschland gibt es erhebliche Disparitäten:
Beispiel | Strukturproblem |
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Saarland | Industriekrise, Haushaltsnotlage, hohe Verschuldung |
Ruhrgebiet | Deindustrialisierung, Bildungsdefizite, hohe Armutsquoten |
Nordhessen | geringe Wirtschaftskraft, geringe Innovationsdichte |
Südostbayern vs. Nordbayern | starke regionale Ungleichheit |
Hamburg vs. Mecklenburgisches Umland | extreme Stadt-Land-Gegensätze |
→ Diese Unterschiede bestehen teils seit Jahrzehnten, ohne dass sie medial oder politisch so identitätsbildend oder emotional aufgeladen wären wie der Ost-West-Gegensatz.
Grenzen staatlicher Verantwortung – Eigenverantwortung des Individuums
Die staatliche Pflicht ist komplementär zur Eigenverantwortung, nicht ersetzend.
a) Prinzip der Subsidiarität
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Der Staat soll nur dort eingreifen, wo eigenverantwortliches Handeln nicht möglich oder unzureichend ist.
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Im liberalen Sozialstaat wird Hilfe zur Selbsthilfe gefördert, nicht bloße Alimentierung.
b) Keine Garantie auf Gleichheit der Ergebnisse
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Die Verfassung schützt Chancengleichheit, nicht Ergebnisgleichheit.
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Wer aus freien Stücken in eine strukturschwache Region zieht, trägt gewisse Konsequenzen mit.
→ Individuen, Unternehmen, Kommunen sind selbst Mitgestalter struktureller Entwicklung.
Vergleich mit Schäuble und Lammert
Wolfgang Schäuble (2017)
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Betonung der parlamentarischen Demokratie als Kern des Staates.
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Warnung vor „Erosionen des demokratischen Konsenses“.
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Maßvoll, intellektuell anspruchsvoll, staatsmännisch, mahnend.
Norbert Lammert (2005–2013)
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Rhetorisch brillant, mit ironischer Eleganz.
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Immer auf der Grundlage von Verfassungsbindung, institutioneller Bescheidenheit, politischer Kultur.
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Keine Detailpolitik, keine parteipolitischen Ausfälle.
Unterschied zu Gysi (2025)
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Gysi redet ausführlich, inhaltlich dicht, mit emotionaler und polemischer Zuspitzung.
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Er schlägt einen Bogen von außenpolitischer Lage über Sozialpolitik, Bildung, Rente, Migration, Bürokratieabbau bis zur Gleichstellung Ostdeutscher.
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Er benennt Missstände, appelliert parteiübergreifend, greift zugleich einzelne Parteien frontal an (z. B. AfD).
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Teilweise essayistisch, kabarettistisch, autobiografisch, dann wieder analytisch und strukturkritisch.