Juni 13, 2025

SPD-Friedensmanifest 2025: Forderungen, historischer Kontext und Kritik

 

 

Das im Juni 2025 von einer Gruppe prominenter SPD-Politiker publizierte „Manifest“ (Titel: „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“) verlangt eine grundsätzliche Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Es wird unter anderem unterzeichnet von Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans, Außenpolitiker Ralf Stegner und Ex-Finanzminister Hans Eichel. Inhaltlich fordert das Manifest vor allem:

  • Dialog statt Konfrontation: Sofortige Aufnahme direkter Gespräche mit der russischen Führung, um den Ukraine-Krieg zu beenden. Die Autoren argumentieren, dass gemeinsame Verhandlungen die Eskalation verringern könnten.

  • Stopp geplanter Rüstungsmaßnahmen: Einen sofortigen Stopp der geplanten Stationierung neuer US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Gemeint sind damit (in Anlehnung an den NATO-Doppelbeschluss von 1979) atomar bestückte Flugkörper.

  • Ablehnung weiterer Aufrüstung: Scharfe Kritik an der großen Rüstungsausgaben – sie seien „hunderten Milliarden für Aufrüstung“ gewidmet und führten laut Manifest zu einer „militärischen Konfrontationsstrategie“. Das Papier erklärt die aktuell diskutierten 5‑%‑BIP-Ziele für Verteidigungsausgaben als „irrational“. Statt dessen plädieren die Verfasser für Abrüstungs- und Rüstungskontrollgespräche auf europäischer Ebene.

  • Destabilisierungskritik: Die „militärische Alarmrhetorik“ der NATO-Staaten werde nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern Destabilisierung bringen. Das Manifest warnt vor einer gegenseitigen Aufrüstungsspirale und sieht „Vertrauensbildung“ statt Drohszenarien als richtigen Weg.

Diese Forderungen stehen klar gegen die bisherige Linie der Ampel-Bundesregierung und der SPD-Spitze: Das Manifest bezeichnet die gegenwärtige Politik als zu konfrontativ und läuft auf eine Abrüstungsoffensive hinaus, wo die Regierung weitere Abschreckung und Waffenlieferungen unterstützt.

Historische Einordnung: NATO-Nachrüstung unter Helmut Schmidt

Die Forderungen der aktuellen SPD-Friedenskreise erinnern an die historischen Debatten um den NATO-Doppelbeschluss (1979) und die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa. Damals führte die SPD-geführte Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) die Entscheidung herbei, Pershing-II- und Cruise-Raketen in Deutschland zu stationieren, um der sowjetischen SS-20-Raketenübermacht entgegenzuwirken. Dieser Schritt war innerhalb der SPD höchst umstritten: Schon 1981 protestierten Hunderttausende – getragen von Grünen, Gewerkschaften, Kirchen und Teilen der SPD – gegen den Beschluss und forderten eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa.

Tatsächlich wurde die Diskussion im Herbst 1981 für die SPD zur Zerreißprobe: Kanzler Schmidt hatte 1977 auf der IISS-Konferenz in London die NATO erstmals zu einem Gegenentwurf aufgefordert. Doch bereits 1981 konnte er sich nicht mehr auf die Unterstützung seiner eigenen Partei verlassen. In einer Bundestagsdebatte 1983 verteidigte Schmidt die Notwendigkeit der Nachrüstung ausdrücklich gegen die Mehrheit seiner Partei. Diese innerparteiliche Spaltung trug zum Regierungswechsel von SPD-FDP zu CDU/CSU-FDP 1982/83 bei.

Parallelen heute: Wie 1980/81 sind heute parteiinterne Grüppchen innerhalb der SPD aktiv, die Dialog statt Abschreckung propagieren. Die „SPD-Friedenskreise“ im aktuellen Manifest berufen sich direkt auf die historische Friedensbewegung. Anders als unter Schmidt steht diesmal allerdings nicht die SPD-Regierung, sondern die aktuelle CDU-SPD-Koalition im Zentrum – und die Forderungen betreffen das gemeinsame Regierungshandeln der Partner, nicht lediglich eine Opposition.

Vergleich mit aktueller Regierungspolitik

Die aktuelle Regierung (CDU/CSU und SPD) verfolgt im Koalitionsvertrag ausdrücklich eine starke und werteorientierte Außen- und Sicherheitspolitik. Russland wird dabei klar als Aggressor im «völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine» bezeichnet. Das Koalitionsabkommen sieht eine erhebliche Aufrüstung der Bundeswehr vor, um Landes- und Bündnisverteidigung voll erfüllen zu können. Zugleich bekennt sich die Regierung zu Rüstungskontrolle und Abrüstung – aber unter der Bedingung, dass die Abschreckung nicht gefährdet wird. Wörtlich heißt es: „Wir stärken die Bundeswehr für Abschreckung und Verteidigung“ und „erhöhen unsere Verteidigungsausgaben“, gleichzeitig bleibt das langfristige Ziel Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Die Koalition bekräftigt zudem ihre unerschütterliche NATO- und EU-Verpflichtung und betont die transatlantische Zusammenarbeit. Deutschland will die Ukraine „umfassend unterstützen, so dass sie sich gegen den russischen Aggressor effektiv verteidigen und sich in Verhandlungen behaupten kann“. In diesem Rahmen sollen Gespräche mit Russland geführt werden – nach einer Verstärkung von Verteidigung und Abschreckung, nicht statt dessen.

Gegensatz zum Manifest: Das vorliegende Manifest fordert hingegen genau das Gegenteil: Es wirft der Regierung vor, zu sehr auf Aufrüstung zu setzen, und verlangt vorgezogene Friedensverhandlungen auf deutscher Initiative. Es widerspricht damit offen dem Regierungs- und SPD-Parteikurs. Schon die Tagesschau kommentierte, dass die mehr als 100 Unterzeichner damit „gegen den Kurs der Bundesregierung und auch der aktuellen SPD-Führung“ aufbegehren. SPD-intern reagierte die Parteiführung entsprechend reserviert – Außenpolitik-Sprecher Ahmetovic distanzierte sich von dem Papier. Die CDU betont unterdessen unverändert die Notwendigkeit gemeinsamer NATO-Aktionen und harter Sanktionen. So erklärte Bundeskanzler Merz mehrfach, dass Deutschland Russland erst militärisch und wirtschaftlich in die Schranken weisen müsse, bevor es über Gespräche sprechen könne (vgl. Koalitionsvertrag).

Völkerrechtliche und bündnispolitische Aspekte

Die außenpolitischen Vorschläge des Manifests werfen wichtige völkerrechtliche und Bündnis-Fragen auf. Völkerrechtlich bleibt unstrittig: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verletzt die UN-Charta (Verbot der Gewaltanwendung) und die OSZE-Verpflichtungen eindeutig. Deutschland hat sich international verpflichtet, die territoriale Integrität der Ukraine zu unterstützen und Aggression nicht hinzunehmen. In diesem Sinne wäre das Motiv des Manifests – tödliche Gewalt zu beenden – grundsätzlich begrüßenswert. Es stellen sich aber Fragen der Umsetzbarkeit: So setzt das Manifest Gespräche zwar als Friedensweg vor, nennt aber keine Garantien für die Ukraine. Internationale Sanktionen gegen Russland beruhen auf UN- und EU-Rechtsvorschriften; eine einseitige deutsche Verhandlungen mit Moskau könnten hier widersprüchlich wirken, wenn sie den Eindruck eines Abweichens vom gemeinsamen EU-Sanktionsregime erwecken. Völkerrechtlich wäre an sich nichts gegen deutsche Vermittlungsangebote einzuwenden – jedoch müssen sie mit den Bestrebungen der Alliierten abgestimmt sein, um kein Aufweichungssignal gegen internationales Recht zu setzen.

Bündnispolitisch ist Deutschland durch das NATO-Bündnis und die EU-Partnerschaften eng eingebunden. Artikel 5 des NATO-Vertrags verpflichtet alle Mitglieder zur kollektiven Verteidigung; Artikel 24 des Grundgesetzes (GG) erlaubt dem Bund sogar, Hoheitsrechte an supranationale Organisationen wie die NATO abzugeben. Im Koalitionsvertrag betont die Bundesregierung denn auch ausdrücklich ihr „unverrückbares“ Bekenntnis zu NATO und EU. Ein einseitiger Kurswechsel Deutschlands (etwa im Rahmen von Verhandlungen mit Russland) würde ohne Abstimmung die Glaubwürdigkeit des Bündnisses schwächen. Ähnlich bindend sind EU-Abkommen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – Deutschland kann seine Außenpolitik nicht völlig losgelöst von seinen Partnern gestalten.

Hinzu kommt, dass Deutschland durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag (1990) und die deutschen Verfassungsvorgaben (GG) völkerrechtlich Verpflichtungen zur atomaren Nichtweiterverbreitung und kollektiven Verteidigung hat. So verbietet der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ – als Abschlussdokument der deutschen Einheit – die dauerhafte Stationierung neuer Kernwaffen auf deutschem Gebiet (Art. 7) und bekräftigt Deutschlands Verzicht auf Massenvernichtungswaffen. Die Manifest-Forderung, neue US-Mittelstreckenraketen (die naturgemäß nuklear bestückt wären) in Deutschland nicht zuzulassen, liegt zwar völkerrechtlich im Rahmen dieser Vertragslage. Politisch aber würde sie die bisherigen Verteidigungsabkommen mit den USA in Frage stellen. Schließlich berührt das Manifest auch Grundsatzfragen des Völkerrechts: Es plädiert für einen Weg der Deeskalation statt Abschreckung, was mit dem verfassungsrechtlichen Ziel (GG Art. 26 Abs. 1) „Frieden und Recht im Weltverkehr“ zu wahren, kompatibel ist. Zugleich muss jede Änderung grundsätzlicher Verteidigungsbeschlüsse den demokratischen und völkerrechtlichen Verfahren entsprechen. Ein eigenmächtiger Alleingang Deutschlands bei Abrüstungsgesprächen hätte ohne breite Zustimmung weder in EU noch NATO Bestand.

Sicherheitsstrategische Aspekte

Sicherheitsstrategisch ist die Debatte im Manifest höchst umstritten. Befürworter betonen zu Recht, dass Rüstungswettläufe Sicherheitsdilemmata erzeugen können: Jeder Ausbau von Waffensystemen wird vom Gegner misstrauisch beäugt und kann zu Gegenaufrüstungen führen. Das Manifest argumentiert exemplarisch, dass gerade „militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme“ nicht mehr Sicherheit schaffen, sondern zur Destabilisierung und wechselseitigem Misstrauen beitragen. Diese Sichtweise findet in Friedens- und Konfliktforschung eine Basis, die Abrüstung als Beitrag zum Frieden sieht.

Demgegenüber warnen Skeptiker: Inmitten eines schwelenden Krieges mag ein nationales Abrücken von Abschreckungsmaßnahmen sicherheitspolitisch riskant sein. Deutschland ist Teil einer kollektiven Verteidigung; eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Russland setzt voraus, dass die NATO-Mitglieder nach außen einheitlich auftreten. Wenn Deutschland etwa überraschend auf geplante Mittelstreckenraketen verzichten und seine militärischen Kapazitäten drosseln würde, könnten Länder in Osteuropa und die USA die deutsche Zuverlässigkeit infrage stellen. Die Betonung auf „Verteidigungsfähigkeit“ im Manifest (etwa durch Bundeswehrmodernisierung) bleibt vage. Ohne konkrete Verstärkungen und Finanzierungszusagen würde ein Spardiktat allerdings faktisch die Bereitschaft der Truppe schwächen.

Aus Sicht der Bündnisverteidigung ist auch die Timing-Frage kritisch: Das Manifest will noch laufende Lieferungen moderner Waffen (z.B. Haubitzen, Panzer) grundsätzlich infrage stellen. Würde Deutschland hier einen Rückzieher machen, wäre das ein massiver Bruch mit den bisherigen Zusagen. Sicherheitspolitisch könnte dies Russland sogar ermutigen, weitere Gebietsgewinne anzustreben, weil die Abschreckungswirkung der NATO abnimmt. Andererseits hat das Manifest recht, dass Russland auf lange Sicht zu einer stabilen Sicherheitsarchitektur in Europa gehört. Sicherheitsexperten fordern daher in der Regel, militärische Stärke mit Optionen auf politischen Dialog zu kombinieren. Das Manifest verschiebt jedoch kurzfristig die Priorität komplett auf den Dialog, ohne zu klären, wie Deutschland und seine Verbündeten in der Zwischenzeit die Sicherheit gewährleisten wollen.

Juristische Bewertung und Schlusskritik

Rechtlich gesehen verletzt das Manifest keinen konkreten Rechtsakt: Deutschland ist souverän, Verhandlungen mit Russland anzubieten und eigene Rüstungsprojekte im Rahmen nationaler Entscheidungsmacht zu stoppen. Jedoch zeigen sich erhebliche Spannungen mit bestehenden Verpflichtungen. Verfassungsrechtlich ist die Bundesregierung (gemäß Art. 24, 87a GG) zu kollektiver Landes- und Bündnisverteidigung befugt, was im Koalitionsvertrag ausdrücklich festgeschrieben ist. Ein völliger Abbruch der Aufrüstungspläne würde diese verfassungsimmanente Verantwortung erschweren. Völkerrechtlich steht Deutschland im Uno-Sicherheitsrat und Europa im Wort, die russische Aggression zu unterbinden; das Manifest ignoriert allerdings, dass ein Gesprächsangebot oft als Zeichen einer einseitigen Schwächung interpretiert werden kann.

Insgesamt ist festzuhalten: Das Manifest bringt Debattenpunkte zur Sprache – etwa die Frage, wie viel Aufrüstung nötig und wie viel Dialog möglich ist. Es erinnert historisch an frühere SPD-Diskurse um Abschreckung versus Entspannung. Allerdings ist der gewählte Zeitpunkt problematisch, da er mitten in einer breiten Sicherheitskrise erfolgt. Die im Manifest vorgeschlagene Kehrtwende widerspricht klar den völkerrechtlich begründeten Zielen der aktuellen Regierung (Schutz der Ukraine, Einhaltung der internationalen Ordnung). Sie gefährdet zudem die Bündnis-solidarität im Westen, weil sie die deutsche Zuverlässigkeit in der Verteidigung infrage stellt. Unter rechtlichen Gesichtspunkten bleiben Dialogangebote legitim, doch müssten sie in ein koordiniertes Bündniskonzept eingebettet sein – so wie es der Koalitionsvertrag vorsieht.

Fazit: Das SPD-Manifest stellt einen BSPD-Friedensmanifest 2025 dar, bleibt jedoch sowohl historisch als auch strategisch hoch umstritten. Seine völkerrechtlichen und bündnispolitischen Implikationen wurden bislang kaum konkretiert. Rein fachlich gesehen löst es mindestens einen Konflikt aus: Es spannt sich zwischen dem legitimen Ziel der Friedenssicherung einerseits und den grundlegenden nationalen und internationalen Sicherheitsverpflichtungen andererseits. Aus juristischer und realpolitischer Perspektive ist die geforderte Kehrtwende daher nur schwer mit dem geltenden Sicherheitsverständnis vereinbar. Die Diskussion darüber mag wertvoll sein, doch sie muss auf einer sorgfältigen Abwägung der sicherheitsstrategischen Erfordernisse und völkerrechtlichen Rahmenbedingungen beruhen – an dieser Stelle herrscht derzeit noch erhebliche Uneinigkeit.

 

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