Die verschobene Wahl von Verfassungsrichtern wird von vielen politischen Akteuren und Medien als demokratisisches Tief oder gar als „Blockade“ interpretiert. Eine solche Bewertung greift jedoch zu kurz. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive könnte vielmehr das Gegenteil der Fall sein: Die Verschiebung der Wahl ist Ausdruck einer notwendigen Reflexion über das Verhältnis von politischer Einflussnahme und richterlicher Unabhängigkeit – insbesondere bei einem Verfassungsorgan wie dem Bundesverfassungsgericht.
1. Verfassungsrechtlicher Maßstab: Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG)
Das Grundgesetz garantiert in Art. 97 Abs. 1 GG die richterliche Unabhängigkeit:
„Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“
Diese Unabhängigkeit gilt insbesondere für die Verfassungsrichter, die über die Grenzen und die Geltung der Staatsgewalt selbst entscheiden. Sie ist nicht nur individuell-institutionell zu verstehen, sondern auch im Auswahlverfahren zu sichern. Politische Absprachen über Personalvorschläge, sogenannte Kuhhändel, widersprechen diesem Geist.
2. Das derzeitige Wahlverfahren: Verfassungsrechtlich zulässig, aber politisch problematisch
Gemäß Art. 94 Abs. 1 GG werden die Richter des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Die Richterwahl durch den Bundestag erfolgt nicht im Plenum, sondern durch einen zwölfköpfigen Wahlausschuss, der wiederum mit den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag zusammengesetzt ist (§ 6 BVerfGG).
In der Praxis führt dies regelmäßig zu parteipolitisch motivierten Auswahlverfahren. Dabei steht häufig nicht die juristische und persönliche Eignung, sondern die politische Nähe zu den wählenden Fraktionen im Vordergrund. Diese Politisierung ist mit dem Neutralitätsanspruch des Gerichts schwer vereinbar.
3. Fraktionszwang und seine demokratietheoretische Problematik
Im Deutschen Bundestag herrscht formal kein Fraktionszwang (vgl. Art. 38 Abs. 1 GG: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“). In der Praxis besteht jedoch ein Fraktionsdruck, auch bei der Wahl von Verfassungsrichtern, was die freie Gewissensentscheidung der Abgeordneten gefährdet.
Gerade bei einer Entscheidung mit verfassungsrechtlicher Tragweite – der Besetzung des höchsten Gerichts – müsste aber das Gewissen des Abgeordneten und die Verfassungstreue ausschlaggebend sein, nicht parteitaktisches Kalkül. Der Fraktionszwang unterläuft so die notwendige Trennung von Legislative und Judikative.
4. Legitimation und Vertrauen: Verfassungsgericht darf kein politisches Organ werden
Das Bundesverfassungsgericht ist die Hüterin der Verfassung. Seine Autorität beruht nicht auf demokratischer Mehrheitsbildung, sondern auf der Legitimation durch das Grundgesetz und der Vertrauensstellung in der Bevölkerung.
Wird die Besetzung des Gerichts als parteipolitischer Akt wahrgenommen, verliert das Gericht an moralischer Autorität und Glaubwürdigkeit – eine Gefahr für den Rechtsstaat. Die Verschiebung der Wahl ist insofern ein Signal, dass sich das politische System in einer Legitimationskrise bei der Auswahl verfassungsrichterlicher Organe befindet.
5. Alternative Wahlverfahren zur Entpolitisierung
Es bestehen verschiedene Optionen, um die Richterwahl zu entpolitisieren:
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Fachgremium aus Richtern und Wissenschaftlern: Die Richterwahl könnte – analog zum Bundesrichterwahlausschuss – einem Gremium übertragen werden, das mehrheitlich aus Richterinnen und Richtern der obersten Bundesgerichte sowie unabhängigen Rechtswissenschaftlern besteht.
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Vorschlagsrecht durch die Justiz selbst: Die Bundesgerichte oder die Bundesrechtsanwaltskammer könnten Vorschläge unterbreiten, wodurch eine gewisse unabhängige Selbststeuerung der Justiz entstehen würde.
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Direkte Berufung durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag eines unabhängigen Gremiums aus der Richterschaft: Der Bundespräsident wäre als überparteiliches Verfassungsorgan eine geeignete Instanz, um Personalvorschläge zu formalisieren – unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Expertise (z. B. Deutscher Juristentag, Wissenschaftsakademien).
Die Verschiebung der Wahl ist kein „demokratisches Tief“, sondern ein notwendiges Innehalten in einem verfassungsrechtlich sensiblen Verfahren. Sie macht sichtbar, dass die richterliche Unabhängigkeit nicht mit parteipolitischer Taktik kompatibel ist. Wer das Vertrauen in das Verfassungsgericht wahren will, muss den Auswahlprozess reformieren – weg von politischen Paketen, hin zu einem Verfahren, das der Verfassung, dem Rechtsstaat und dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
Die Rolle der Medien in der heutigen Berichterstattung zur verschobenen Wahl der Verfassungsrichter ist verfassungsrechtlich und demokratietheoretisch kritisch zu hinterfragen.
Statt neutral zu informieren, haben viele Medienorgane — insbesondere öffentlich-rechtliche Formate sowie große Leitmedien — die Entscheidung, die Wahl zu verschieben, nahezu einhellig als:
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„demokratische Blamage“,
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„Verletzung parlamentarischer Gepflogenheiten“,
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„Blockade“ oder
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„Bruch politischer Absprachen“
bewertet. Das ist mehr als ein journalistischer Kommentar — es ist ein Normierungsversuch, der selbst zum Teil des politischen Drucks wird, den eigentlich gerade die vierte Gewalt zu kontrollieren hätte.
1. Verfassungsrechtliche Funktion der Medien: Information, nicht Disziplinierung
Die Medien haben gemäß ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine besondere Rolle im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat:
Sie dienen der öffentlichen Meinungsbildung und sind wesentlich für die Kontrolle der Staatsese Kontrollfunktion setzt objektive Information voraus, nicht journalistische Bewertung in Form politischer Parteinahme. Wer eine verzögerte Wahl sofort als „unverantwortlich“ oder „undemokratisch“ qualifiziert, bevor der Kontext beleuchtet wird, verfällt dem gleichen Mechanismus wie parteipolitische Öffentlichkeitsarbeit – nicht der publizistischen Aufklärung.
2. Die unkritische Bezugnahme auf „Absprachen“ als Problem
Dass Medien von einer „Verletzung politischer Absprachen“ sprechen, impliziert, dass solche Absprachen legitim und gar rechtsstaatlich erforderlich seien. Dabei sind informelle parteipolitische Deals über Richterstellen gerade kein verfassungsrechtlich geschütztes Gut, sondern Ausdruck eines systemischen Defizits im gegenwärtigen Wahlverfahren.
Medien, die diese Absprachen als schützenswert darstellen, stellen politische Verfahren über verfassungsrechtliche Prinzipien wie Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit. Das ist verfassungsdogmatisch verfehlt.
3. Gefahr der Diskursverengung: Kein Raum für verfassungskritische Perspektiven
Die Berichterstattung hat heute in weiten Teilen keinen Raum für alternative Bewertungen gelassen: Die Verschiebung wurde nahezu ausnahmslos negativ dargestellt – ohne die verfassungsrechtlich nachvollziehbare Möglichkeit, dass es hier um die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit oder die Vermeidung politischer Einflussnahme gehen könnte.
Die Medien laufen damit Gefahr, demokratische Pluralität und differenzierte Debatte zu unterdrücken, statt sie zu fördern. Das ist insbesondere für öffentlich-rechtliche Sender mit Verfassungsauftrag (vgl. BVerfGE 57, 295 – 6. Rundfunkentscheidung) problematisch.
4. Demokratische Kultur statt parteipolitische Erwartung
Ein Parlament, das sich entscheidet, bei der Besetzung eines Verfassungsorgans nicht „automatisch“ zuzustimmen, sondern inhaltlich oder prozedural Bedenken anmeldet, handelt nicht demokratiewidrig, sondern demokratiebewusst. Die Medien sollten diesen Schritt als Ausdruck deliberativer Auseinandersetzung einordnen – nicht als Verstoß gege einen Konsens, den es de jure nicht geben darf.
Die Berichterstattung über die verschobene Wahl war in Teilen tendenziös, wertend und demokratietheoretisch verkürzt. Wer eine politisch motivierte Einigung zur Besetzung eines Verfassungsorgans als normativen Maßstab erhebt und jede Abweichung davon als „Unmöglichkeit“ brandmarkt, verkennt sowohl die Logik der Gewaltenteilung als auch die Aufgabe unabhängiger Medien im Verfassungsstaat.